Veranstaltungen Individualpädagogik
1. Oktober 2006, St. Petersburg

Projektreise St. Petersburg, Russland

Im Folgenden sind die Programmpunkte bzw. der Besuch folgender Einrichtungen zwecks kollegialem Austausch aufgeführt. Die Gespräche bei den Treffen wurden von unserer Dolmetscherin Daria übersetzt.

Programmpunkte der Projektreise
Russische staatliche pädagogische Herzen-Universität St. Petersburg
Psychologisch-pädagogische Fakultät
Lehrstuhl: Sozialpädagogik und Soziale Arbeit
GastgeberInnen: Prof. Dr. Svetlana Rastschetina, Leiterin des Lehrstuhls
S.T. Posochova, Prodekan für wissenschaftliche Forschungsarbeit
Dr. W.S. Koschkina
Dr. A.B. Kokin

Inhalte des Austauschs:

  • Russische Gesetzgebung über die Bewältigung der Verwahrlosung
  • Deutsche Gesetzgebung über die Betreuung von verwahrlosten Kindern
  • Psychologisch-pädagogisches Erscheinungsbild von verwahrlosten Jugendlichen
  • Prävention gegen Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen

Die russische Pädagogik als Lehre hat ihre Wurzeln im Gebäude der Herzen-Universität. Diese wurde Mitte des 18.Jahrhunderts gegründet. Das Gebäude war früher eine Erziehungseinrichtung für verwahrloste Kinder. Anfang des 19.Jahrhunderts waren es 5000-8000 Kinder, die dort untergebracht waren.

„Das Echo von Kinderweinen scheint man in den Räumen zu hören“ Prof. Dr. Rastschetina
Es wird betont, dass Verwahrlosung und seine Erscheinungsformen globalen Charakter haben, sodass es wichtig und sinnvoll ist, dass die Erfahrungen im Umgang damit aus verschiedenen Ländern zusammenfließen.

Fünf sozialpädagogische Schwerpunkte gibt es zurzeit:

  • Prävention gegen Verwahrlosung und Rechtsverletzung
  • Gesundheit der Kinder
  • Begabte Kinder
  • Waisenkinder
  • Behinderte Kinder

Die Prävention gegen Verwahrlosung gilt als wichtigstes Projekt und wird in der russischen Öffentlichkeit diskutiert.
In Russland wird unterschieden zwischen verwahrlosten Kindern und Straßenkindern. Verwahrloste Kinder leben noch bei den Eltern und haben unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägte Beziehungen zu einzelnen Familienangehörigen. Straßenkinder haben keine Beziehung mehr zur Ursprungsfamilie und suchen sich einen Ersatz. Die Gruppe bietet ihnen Schutz und sie definieren sich über Aussehen, Sprache, Lebensweise. Sie wohnen in Kellern und Abbruchhäusern, auch in der Kanalisation. Ihr Aussehen ist abhängig vom Einkommen, welches sie über Bettelei, Raub, Plündern und Prostitution beziehen. Ihre Sprache ist knapp und oft wird ein bestimmter Slang gesprochen.
„Verwahrlosung spiegelt den Zustand der Gesellschaft wider“ Dr. Kokin

In ganz Russland rechnet man mit 500.000 Kindern und Jugendlichen, in St. Petersburg 19.000, die auf der Straße leben. Die Zahl der Kinder hat in den letzten 10 Jahren drastisch zugenommen.
Der gesellschaftliche Wandel in Russland, vom Sozialismus zum Kapitalismus, hat einen Wertewandel nach sich gezogen. Kollektivistische Werte waren die wichtigsten, dass erst kamen die individuellen Werte. Durch die Wende kam es zur Zerstörung von Lebensweisen für Familien und Kinder. Die erzieherisch-therapeutische Funktion der Familie verringerte sich. Schulen änderten sich von der Erziehungsanstalt zur Bildungsanstalt, Kindertagesstätten schlossen. Zudem begann ein Zuzug vom Land in die Städte, wo jetzt viele verschieden Nationalitäten leben.

Vereinigung „Ärzte der Welt - Frankreich“
Humanitäre Aktion
St. Petersburger öffentlicher Wohltätigkeitsfonds von medizinisch-sozialen Programmen
Blochina Ul.5/2
Ofizerskij pereulok 6/2
Gastgeber: Alexandr Zechanovitsch, Generaldirektor

Inhalte des Austauschs:
Mobile Schule
Straßenkinder
Hilfe für Straßenprostituierte

Eine mobile Schule hilft Straßenkindern, den schulischen Anschluss nicht zu verlieren. Kleine Gruppen, ein fester Lehrer - das bietet einen stabilen Rahmen für die SchülerInnen und Möglichkeit, positive neue Erfahrungen zu machen, denn es gibt keine schlechten Noten. Schulpflicht besteht in Russland bis zum 15.Lebensjahr.
Aber auch junge Erwachsene werden schulisch betreut.
Bei Straßenkindern ist ein steigender Drogenkonsum (Tabletten, Heroin, Inhalation von Lösungsmittel) auszumachen, der eine Resozialisierung erschwert. Durch Streetwork finden die Mitarbeiter der Organisation Zugang zu den Kindern. Es wird medizinische Hilfe angeboten (Kinderärzte, Erste Hilfe bei Verletzungen, Mittel gegen Läusebefall, Aidsaufklärung).
Um Straßenprostituierte zu erreichen fährt ein Wohnmobil mit zwei sozialpädagogischen Mitarbeitern in die entsprechenden Stadtviertel und bietet mobile ärztliche Hilfe an. So werden Blutproben entnommen, um einen Test auf HIV-Erkrankung, Hepatitis B+C durchzuführen, Kondome verteilt und Beratung angeboten.
Es arbeiten 60 Mitarbeiter bei der Humanitären Aktion.

Komitee für Soziales des Vsevolozhsker Stadtbezirks
Gastgeberin: E.I. Frolova, Vorsitzende des Komitee für Soziales
L.A. Wyschemirskaja, Leiterin der Abtlg. Vormundschaft und Pflegschaft

Inhalte des Austauschs:
Koordinierung und Zusammenarbeit des Kommunalkomitees für Soziales mit sozialen Einrichtungen
Hauptrichtungen der Arbeit des Komitees mit verschiedenen Gruppen der Jugendlichen

Alle Informationen von verschiedenen Organisationen über Risikofamilien kommen ins Zentrum des Komitees für Soziales. Dieses erstellt ein ausführliches Bild der Familie und reagiert entsprechend dem Hilfebedarf. Kinder können im Hort untergebracht werden, in Pflegefamilien oder auch in Heimen. Zeitgleich wird mit den Familien gearbeitet (Arbeitssuche, Gesundheitsfürsorge - Alkohol ist ein großes Problem -, Wohnungssuche), damit die Kinder im günstigsten Fall wieder zurückgehen können. Im Zentrum arbeiten Sozialpädagogen und Psychologen. Es gibt eine anonyme Kinderberatungsstelle, auch per Telefon. Das Zentrum ist eine städtische Einrichtung und Verwaltungsstelle, die Abteilung für Vormundschaften und Pflegschaften gehört dazu. Es wird ein jährlicher Wettbewerb ausgeschrieben, an denen sich nicht kommerzielle Organisationen bewerden können, die die Arbeit mit den Kindern machen. Die Region entscheidet, wer den Zuschlag erhält. Die Bevölkerungszahl der Region beträgt ca. 220.000 Menschen, von denen jährlich 10.000 von dem Zentrum betreut werden. Von den 10.000 Kindern melden sich ca. 10% freiwillig, der Rest wird über die Krankenhäuser und die Polizei ins Zentrum gebracht. Die Abteilung Vormundschaft und Pflegschaft entscheidet über die Unterbringung der Kinder, ein Einverständnis der Eltern ist nicht nötig. Soll en Kind länger als ein Jahr im Hort oder Heim bleiben, ist ein Gerichtsentscheid vonnöten. Die Elternrechte werden per Gericht entzogen. Pro Pflegefamilie werden 2-3 Kinder gerechnet. Die Pflegefamilien bekommen Beratung durch Pädagogen und Psychologen. Pflegekinder Genießen Privilegien bei der Aufnahme in Schulen und Universitäten. Ohne Zustimmung des Komitees dürfen Kinder nicht die Schule verlassen.

Besuch des Kommunalzentrum für soziale Rehabilitierung von Minderjährigen des Vsevolozhsker Stadtbezirks
Gastgeberin: T.A.Sisova, Direktorin des Zentrums
und des Gebietskinderheims
Gastgeberin: G.W.Poddubnaja, Direktorin des Kinderheims

St. Petersburger Kinder- und Jugendrehabilitationszentrum für Drogensüchtige
Respublikanskaya Ul.18
GastgeberIn: Felix Germanovitsch Chtcheglov, Arzt für Narkose und Psychologie
Direktor
Marina Jurjevna Gorodnova, Ärztin für Narkose und Psychiatrie,
Leiterin des Zentrums

Im Rehazentrum für Drogensüchtige werden Kinder und Jugendliche bis zum 20.Lebensjahr behandelt. Die Drogenhilfe muss in Russland nur tätig werden, wenn der Süchtige sich freiwillig meldet. Er muss zum Bezirksarzt gehen, einen freuwilligen Entzug machen, dann kommt die kostenlose Rehabilitation. Der Abhängige wird auf eine Liste gesetzt, die für ihn Beschränkungen bedeuten. Er darf keine Waffen erwerben, bestimmte Berufe nicht ausüben, keinen Führerschein machen, etc. Diese Einschränkng ist nicht lebenslang. Wenn der Patient eine gewisse Zeit clean ist (bei Alkohol 3 Jahre), wird sie aufgehoben. Es gibt keine Drogenersatztherapie. Süchtige, die sich registrieren lassen, können alle Hilfe kostenlos in Anspruch nehmen. Erste Station ist der körperliche Entzug, zweite Station ist geschlossene Abteilung der Narkologie, dann als dritte Station kommt das Rehazentrum. Hier ist ein dreimonatiger Aufenthalt vorgesehen. Sie bleiben dort von 10-18h und sind ins Rehaprogramm eingebunden. Danach gibt es weiterhin Beratung, Selbsthilfegruppen und Arbeit. Heroin ist die häufigste Droge bei Patienten über 20 Jahre, bei jüngeren sind es Nikotin, Alkohol, Amphetamin und Marihuana. Eine neue Erscheinung in St. Petersburg ist die Spielsucht, oft gekoppelt mit anderer Sucht (Heroin oder Amphetamin). Über die Häufigkeit bestimmter Drogen gibt es keine verbindliche Statistik. Für den Entzug treffen die Eltern bei Kindern unter 16 Jahren die Entscheidung.

Wohltätige Kinderorganisation Zirkus UPSALA
B. Selenina Ul.
Gastgeberin: Vera Zhukova, stellvertretene Direktorin

Der Zirkus wurde 2000 gegründet. Die Arbeit im Zirkus verfolgt zwei Ziele, die soziale Arbeit und die künstlerische Arbeit. Den Kindern wird eine Alternative zum Leben auf der Straße geboten. Es arbeiten dort professionelle Trainer und Choreographen mit den Kindern, die meist aus sozial schwachen Familien kommen. Einmal pro Jahr. Im Sommer, geht der Zirkus für sechs Wochen auf Deutschlandtour. Im Rahmen der sozialen Arbeit gibt es auch medizinische Unterstützung(z.B. Zahnarztbesuche, etc), warmes Essen, es gibt Nachhilfe und Hausaufgabenhilfe. Des Weiteren gibt es ein Schulschwänzerprojekt. Sponsoren haben dem Zirkus ein Haus auf dem Land geschenkt, wo die Kinder lernen, Kochen, proben. Die Kinder aus „normalen“ Familien werden abgewiesen, alle anderen können kommen, es gibt kein Casting-Verfahren. Das Alter der Kinder beträgt 7-20 Jahre, sind die Kinder älter, werden sie Trainerhelfer. Bisher gibt es keine behördliche Unterstützung, was den Mitarbeitern aber recht ist, da sie frei bleiben wollen. Es gibt 10 Mitarbeiter plus freiwillige Helfer.
Pro Tag kommen durchschnittlich 30 Kinder zu den Proben.

„Neue Generation“
Prospekt Kosmonavtov 28/3
GastgeberIn: Michail Dmitriev, Generaldirektor
A.I.Subbotina, Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit

Die Organisation „Neue Generation“ gibt es seit 1993. Ziel ist die Umerziehung auffälliger Kinder und Jugendlicher, soziale Anpassung durch Arbeitstherapie. Die Kinder bekommen dort auch Unterricht, die Lehrer kommen ins Haus. Schwerpunkt der Arbeit ist die Freizeitgestaltung, ausgehend von den Interessen der Kinder (Sport, Model-Schule). Die Kinder wohnen zu Hause, verbringen aber den ganzen Tag bei der Organisation. Sie bekommen drei Mahlzeiten, werden medizinisch und psychologisch versorgt und betreut und erhalten rechtliche Hilfen. Die Kinder stellen Lernspiele her und erhalten dafür einen Lohn. So lernen sie, dass man auf legalem Weg Geld verdienen kann. Sie erlernen einen Beruf und erarbeiten sich einen Schulabschluss. Finanziert wird alles aus dem Stadthaushalt. Die Jugendlichen lernen, sich selbst zu verwalten, pro 10 Kinder wird ein Brigadier gewählt, der im „Rat der Brigadiere“ auch über Disziplinarmaßnahmen entscheidet.
„Durch Arbeitsdisziplin und Förderung der Feinmotorik wird die Psyche positiv beeinflusst“ M. Dmitriev

St. Petersburger regionale öffentliche Organisation für Arbeit mit Kindern und Jugendlichen „Zentrum der Innovationen“ Mädchenklub „Regenbogen“
Ul. Lenina 49
Gastgeberin: Elena Kusmina, stellvertretende Direktorin

Das Zentrum für Innovationen hat viele Projekte. Seit 2002 gibt es den Mädchenklub für 8-18jährige Mädchen. Er wird unterstützt durch einen schwedischen Fond unter der Patronage von Königin Silvia von Schweden.
Es werden zwei Richtungen verfolgt:
1. Arbeit - Ausbildung
Hier werden den Mädchen PC-Kurse, Englisch und Französischkurse angeboten.
2. Freizeit
Theater, Tanz, Modeln, Nähen, Spiel stehen im Vordergrund der Arbeit.

Der Klub ist nachmittags geöffnet. Die Mädchen kommen meist aus sozial schwachen Familien und werden durch die Schulen und anderen sozialen Einrichtungen ausgesucht. Es wird Hilfe bei sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung angeboten. Junge Mütter können hier den Umgang mit den Säuglingen lernen. Ca. 150 Mädchen kommen im Laufe eines Jahres, 80 kommen regelmäßig am Nachmittag. Sie erfahren im Klub Wertschätzung, Anerkennung und lernen, dass Missbrauch kein Tabuthema ist. Sieben pädagogische Mitarbeiterinnen und acht Hilfskräfte arbeiten dort.

Jugendstrafkolonie Kolpino

Die stellvertretende Leiterin und der Direktor führten durch das Gefängnis. Dort gibt es eine Außenstelle der „Neuen Generation“. In der Jugendstrafkolonie Kolpino sind minderjährige männliche Straftäter untergebracht, die in Arbeitstherapie Lernspiele herstellen. Alle erlernen einen Beruf, bevor sie das Gefängnis verlassen.

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